Donnerstag, 17. September 2015

Biafra in Bochum


Foto: http://konzerttagebuch.blogspot.de

The brown lipstick parade
“Who is running things now?“ Das stand auf einem der T-Shirts, die vor dem Eingang zum Bahnhof Langendreer in Bochum herumliefen. Es war der Abend des 11. September 2015. Jello Biafra hatte sich die Ehre gegeben.

Als ich rauskomme rauche ich wie besessen. Auf der Bühne ist Biafra exaltiert - er gestikulierte und mimte ohne Unterbrechung: bittend, schenkend, säuselnd, schreiend, lächelnd, staunend. Er spritzte Wasser in die zur Bühne drängende Menge und schubste die Stagediver in sie hinein. Selbst eher mittig, wo ich dachte, ich könnte ihm entkommen, wurde ich durch die Gegend gezerrt. Applaus vor der Zugabe: Wie benommen taste ich mich an der Wand entlang hinaus. Am Eingang, unter einem Baum im letzten vollen Grün, sitzen zwei Punks und trocknen sich den Schweiß von der Stirn. Biafra hatte gerade Angela Merkel für ihren Umgang mit den Flüchtlingen gelobt.

Die Dead Kennedys kannte ich schon vorher. Vom Alleingang ihres Frontmanns hatte ich erst durch seine Zusammenarbeit mit DOA Redux beim Song „Full Metal Jackoff“ erfahren.

Der Bahnhof Langendreer bietet eine Bühne für wilden Punkrock sowie eine Restaurant/Kneipe für den gemütlichen Herrenabend. Zwei Extreme prallen hier aufeinander. Punk trifft establishment: Dort steht der einsame Mit-40er mit einer Bierflasche in der Hand, versonnen rauchend. Neben ihm treffen sich befreundete Pärchen auf ein Bier und erzählen über den Tag im Büro.

Die Vorband – die „Phonautics“ aus Dortmund, waren kaum auszuhalten. Das Schlagzeug ging so, war nur schlecht abgemischt. Gitarre und Bass so lala, die Sängerin blökte unverständliches Zeug zu mittelmäßigen Punkrhythmen ins Mikro. Auf dem Hof mischten sich darum sehr viele Biafra-Jünger unter die Vertreter des Establishments. Der Typ im „Fuck Austerity-T-Shirt“ ezählte dem Pärchen mit Feierabendbier in der Hand von der Glanzzeit der Dead Kennedys in den 1980er Jahren, die rothaarige Frau in Lederjacke nahm einen Schluck aus ihrem Becks Gold und zeigte ihr Zugenpiercing als sie ihn fragte, ob er ihr eine Zigarette geben kann.
Video: "California über alles"
 Kurt Cobain hat einmal gesagt, dass Schlagzeug müsse so klingen wie ein Helikopter, der über einen hinwegfliegt. Biafras Drums waren gut abgemischt. Seine Band spielte druckvoll. „Brown Lipstick Parade“ ging voll rein, presste wieder heraus, tobte wie eine Welle durch die Menge, auf die sich der Meister stürzte um wild schreiend durch die Menge zu surfen.

Es ist nicht leicht, für Angela Merkel gelobt zu werden, zumal der Lobende, genauso wie sein Jünger, im „FUCK AUSTERITY“-T-Shirt über die Bühne stolzierte. Doch Standpunkte verlangen Akteure. Jello sang eine Spotthymne auf Obama, verdammt Bush jr. für Krieg und Folter. Wir bekamen punkigen Hohn und rockigen Fluch. Klare Fronten und radikale Lösungsvorschläge. Das Tempo war forsch und wurde ständig weiter gesteigert, gestoppt, untedrückt, versteckt, mit politischen Statements überdeckt, durch scharfe prägnante Gitarrensoli bis zum Kollaps aufgepumpt und dann wie eine Bestie auf das Publikum losgelassen.

Jello Biafra ist ein Anführer der radikalen Linken, der Autonomen – aber auch der Gewaltlosen. Das wurde von ihm auch klar gestellt: „non violent protest against Fragging“! Gewalttätig sind nur die Songtexte und die für Punk extrem vielschichtigen Melodien. Sein grenzenloser Hass auf die Politiker und Kapitalisten entlud sich sowohl in den alten Hits der Dead Kennedys als auch in den Songs der zwei Solo-Scheiben, aufgenommen und fabelhaft performed von der „Guantanamo School of Medicine“.

Als alles vorbei ist, sitze ich auf dem Bahnsteig und warte auf den Zug nach Köln. Jello Biafra hatte dazu aufgerufen, Flüchtlingen zu helfen. Der gute Wille ist da, klar, bestimmt. Das System muss verändert werden. Wir müssen uns ändern.   
Aber spätestens dann wenn man eine Familie hat, denkt man das-Eigene-bestützender, abgrenzender. Sogar Jello will nicht unkontrolliert beschleunigen weil Kinder auf der Straße spielen könnten, so wie er es in diesem Interview selbst sagt:
Nebenan im Restaurant feierten an diesem Freitag 10 Angestellte der Deutschen Bank Fiale Bochum Langendreer irgendeine Begebenheit auf ihrer Arbeit mit Bier, Steak und Bratkartoffeln. Der diesen Schlipsträgern unbekannte Typ auf der Bühne wünschte gleichzeitig ihren Arbeitgeber zum Teufel. Draußen vor dem Eingang haben die zwei verschwitzten Punks während der Zugabe einen Espresso getrunken.
Der Punk ist in die Jahre gekommen. Sein Prophet ist es nicht.